Die Geschichte der Sammlung Frauennachlässe
Die Idee zu einer Sammlung von Frauennachlässen entstand im Zuge der Quellensuche für die Ausstellung „Wer wählt, gewinnt? 70 Jahre Frauenwahlrecht“, die 1989 im Rahmen einer von Edith Saurer geleiteten Lehrveranstaltung erarbeitet wurde (PDF 120 KB). Wie in vielen anderen Frauenforschungsprojekten wurde dabei auch hier die oftmals schwere Zugänglichkeit von Dokumenten zu Alltags- und Lebensverhältnissen von Frauen evident.
Ein entsprechender Aufruf in der Zeitschrift „Vor-Magazin“ führte zum Kontakt mit der Familie der Wiener Lehrerin, Schulrätin und Frauenrechtlerin Mathilde Hanzel-Hübner (1884-1970), die zahlreiche persönliche Dokumente (Briefe, Tagebücher etc.) und im Umfeld ihrer politischen Aktivitäten in der Frauen- und Friedensbewegung entstandene Texte hinterlassen hat (Link). Die Übernahme dieses umfangreichen Bestandes war der Anlass für die Gründung der Sammlung Frauennachlässe im Jahr 1990.
Damit wurde ein erster Grundstock für eine Sammlung gelegt. Ab 1992 konnte diese zunächst durch eine personell verbesserte Ausstattung der „Arbeitsgruppe Frauengeschichte“ (später „Arbeitsgruppe Frauen- und Geschlechtergeschichte“) (Link) kontinuierlich auf- und ausgebaut werden. Dabei zeigte sich schon bald, dass der Bedarf nach einer solchen Sammlung sehr groß war. Und es hat sich ebenfalls rasch bestätigt, dass in Frauennachlässen eine große Fülle von für die Frauen- und Geschlechtergeschichte relevanten Quellen vorhanden ist und dass es auch im Interesse vieler Nachfahrinnen und Nachfahren liegt, wenn diese Materialien an einer zentralen Stelle dokumentiert, d. h. aufbewahrt und für die Forschung zur Verfügung gestellt werden.
Der Kreis derjenigen Frauen, die im Laufe ihres Lebens Tagebuch schrieben, umfangreiche Korrespondenzen oder Haushaltsbücher führten, Gedichte verfassten und Familiengeschichten zusammenstellten, scheint überdies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit größer gewesen zu sein als vielfach angenommen: Schreiben als soziale Praxis charakterisierte durchaus schon damals auch das Leben von Frauen aus bildungsferneren Milieus. Noch seltener als überlieferungswürdig erachtet als Nachlässe von Männern, die in keiner prominenten Öffentlichkeit standen, fanden Selbstzeugnisse von Frauen allgemein jedoch lange Zeit kaum den Weg in Archive und werden selten systematisch erfasst und ausgewertet.
So wurden die personellen und finanziellen Ressourcen für den weiteren Ausbau der Sammlung Frauennachlässe bald knapp. Ab 2000 konnten von Christa Hämmerle und Edith Saurer Drittmittel eingeworben werden, damit wurde auch Li Gerhalter Teil des Teams. Von 2006 bis 2012 war die Sammlung Frauennachlässe Teil der Forschungsplattform der Universität Wien „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ (Link). In dieser Zeit erfolgte eine maßgebliche Erweiterung ihres Quellenbestandes und des Tätigkeitsfeldes, u. a. in der akademischen Lehre und im Ausstellungswesen; außerdem erschienen nun verstärkt eigene Quelleneditionen und wissenschaftliche Publikationen (Link).
2013 wurde die Sammlung Frauennachlässe fix am Institut für Geschichte der Universität Wien verankert. 2015 war sie eines der Gründungsmitgliederer von „EDAC – European Ego-Documents Archives and Collections Network“ (Link).
Aktuell umfasst die Sammlung Frauennachlässe bereits mehr als 500 verschiedene, teilweise sehr umfangreiche Nachlässe wie auch Vorlässe. Der Bestand wird dabei durch neue Übernahmen und auch durch Nachreichungen laufend erweitert. Mit dem primären Interesse an Vor- und Nachlässen von Frauen, die nicht einer bestimmten Berufs- oder Personengruppe, einer politischen Bewegung oder Partei angehörten, hat sie im europäischen Raum ein Alleinstellungsmerkmal inne. Sie archiviert aber auch viele von Männern – Freunden und Verwandten, Ehepartnern der Frauen – erfasste Quellen, die in ihren Vor- und Nachlässen ebenfalls enthalten sind.
Forschungsplattform „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte“
Die Sammlung Frauennachlässe war Teil der von 2006 bis 2012 bestehenden Forschungsplattform der Universität Wien „Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext“ (Link).
Wissenschaftliche Texte über die Sammlung Frauennachlässe
Eine Auswahl weiterführender Texte über die Arbeit, die Zielsetzungen und wissenschaftliche Verortung der Sammlung Frauennachlässe ist diese:
- Li Gerhalter: 4.500 Kilometer mit dem Auto quer durch Mitteleuropa. Sammlungen von Selbstzeugnissen, Public History und Citizen Scientists, in: Marion Grossmann, Thomas Hellmuth, Martin Tschiggerl und Thomas Walach (Hg.): Go public! Zugänge zur Public History, Wiesbaden 2024, S. 307-319 (Verlagswebsite) | (PDF)
- Li Gerhalter: „Die Wienerinnen laufen bei helllichtem Tage in Hosen herum.“ Ein intersektionaler Blick in die Bestände von Selbstzeugnissammlungen, in: Susanne Blumesberger, Li Gerhalter und Lydia Jammernegg (Hg.): Archiv-, Bibliotheks- und Dokumentationspolitiken. Frauen*- und genderspezifische Zugänge (Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare 75/2022/1), S. 145-166 (Beitrag im Open Access)
- Li Gerhalter: Selbstzeugnisse sammeln. Eigensinnige Logiken und vielschichtige Interessenslagen, in: Petra-Maria Dallinger und Georg Hofer (Hg.) unter Mitarbeit von Stefan Maurer: Logiken der Sammlung. Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik (Literatur und Archiv 4), Berlin/Boston 2020, S. 51-70 (Beitrag im Open Access)
- Li Gerhalter: Auf zur eigenen Dokumentation von Erinnerung! Feministische Archive für auto/biografische Dokumente als Schnittstellen von Erinnerungspolitiken und Forschung, in: Elke Krasny und Frauenmuseum Meran (Hg.): Women’s:Museum Frauen:Museum. Curatorial Politics in feminism, education, history and art | Politiken des Kuratorischen in Feminismus, Bildung, Geschichte und Kunst, Wien 2013, S. 285-295 (PDF 1,5 MB)
- Li Gerhalter: „Quellen für die Frauen- und Geschlechtergeschichte haben wir auf jeden Fall benötigt“: Die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte, in: Hubert Szemethy u.a. (Hg.): Gelehrte Objekte? – Wege zum Wissen. Aus den Sammlungen der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 2013, S. 122-141 (PDF 1,3 MB)
- Li Gerhalter: Sammlung Frauennachässe, in: Claudia Feigl (Hg.): Schaukästen der Wissenschaft. Die Sammlungen an der Universität Wien, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 53-55 (PDF 4,2 MB) | Translation in English: The Collection of Women’s Personal Papers, in: Academic Showcases. The Collections at the University of Vienna, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 53-55 (Scan: PDF 258 KB) | (PDF 63 KB)
- Li Gerhalter: Geschichten und Voraussetzungen. Die Bestände der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: Unsere Heimat. Zeitschrift für Landeskunde von Niederösterreich 81/2010/1, S. 27-41 (PDF 8 MB)
- Li Gerhalter: Decisions and Chances – the Winding Path of Women’s Personal Testimonies. The Collection of Women's Estates | Sammlung Frauennachlässe, Vienna, in: Kristina Popova, Marijana Piskova, Margareth Lanzinger, Nikola Langreiter and Petar Vodenicharov (Hg.): Women and Minorities: Ways of Archiving, Blagoevgrad 2009, S. 20-34. (PDF 19 KB)
- Christa Hämmerle: Fragmente aus vielen Leben. Ein Portrait der „Sammlung Frauennachlässe“ am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 14/2003/2, S. 375-378 (PDF 55 KB) | Translation in English: Fragments of Many Lives. Portrait of the „Collection of Women's Estates“ at the Department of History of the University of Vienna (PDF 55 KB)
- Christa Hämmerle: Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive, in: Thomas Winkelbauer, Hg., Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 40), Horn/Waidhofen a. d. Thaya 2000, S. 135-167 (PDF, 11,4 MB)
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