Christl Wolf, Feldpostbrief 1918, Sammlung Frauennachlässe, SFN NL 14 I

Alltägliche Ausnahmen


Gerade das Alltäglichste wird selten verschriftlicht. Durch das Niederschreiben von dem als Abweichung Empfundenen lassen sich dennoch Rückschlüsse auf die erdachten Lebensnormalitäten ziehen bzw. stellen sich diese Normalitäten vielfach als aneinandergereihte Ausnahmezustände heraus.
Kriegssituationen ziehen nicht zuletzt Einschnitte in zuvor gängige Geschlechterverhältnisse nach sich:


Julie Söllner-Karplus (geb. 1874)

Julie Söllner-Karplus war eine mit einem Rechtsanwalt verheiratete, gutbürgerlich situierte Wienerin und Mutter dreier Kinder. In ihrem Tagebuch hielt sie die durch den Ersten Weltkrieg veränderten Lebensrealitäten fest:

8. April 1915. (...) Die große Zeit lastet auf allen wie ein Alp, man wäre so froh wieder in das eintönige Einerlei früherer Zeiten, wo einem die Nichtigkeiten des Lebens interessierte zurückzukehren. Wie sonderbar mutet uns doch an, wenn Männer anfangen über die verschiedenen Mehl- und Brotsorten zu dozieren, jetzt ist Mais- oder Roggenbrot den meisten wichtiger als Schiller und Goethe. Es hat sich ja doch alles so geändert, wer hätte das vor einem Jahr für möglich gehalten, daß vernünftige Menschen zu Tausenden, nein zu Millionen übereinander herfallen werden und sich morden; Menschen die einander nie gesehen nie beleidigt haben.


Christine Wolf (geb. 1891)

Christine Wolf (geborene Lang) versuchte am Ende des Ersten Weltkrieges, eine Beurlaubung ihres Ehemannes Leopold Wolf vom Frontdienst zu erwirken. In dieser Absicht plante sie, mit einem Beamten des Kriegsministeriums in Kontakt zu treten. Sie war vom Gelingen ihres Vorgehens überzeugt, sich gleichzeitig aber auch dessen kontextbezogener Außerordentlichkeit bewusst:

Wien, 5. März 1918. (...) Weißt Du daß ich schon entschlossen war, heute ins K.m. [Kriegsministerium] zum H. zu gehen? Du staunst über Dein freches Weibi, es tut mir aber nur leid, daß ich mich abhalten hab lassen. (...) Ich weiß doch, daß so u. so viele andere Frauen auch hinein gehen. (...) Einstweilen fand ich (...) einen Brief von Onkel Franz vor, worin er mir mitteilt, daß er zufällig Gelegenheit hatte mit H. zu sprechen und ihm meine Absicht mitteilte. H. läßt sich mir ergebenst empfehlen und mir sagen, daß ich mich nicht erst bemühen soll, er ist ganz genau orientiert, kennt alle Deine Wünsche und verspricht auch mir sein möglichstes zu machen. (...) Nun kann ich aber doch nicht gut mehr zum H. gehen, wenn er mir schon sagen läßt, er wird sein möglichstes machen (...) Wenn ich halt selber gegangen wäre. (...) Aber leider der Onkel Franz hat keine gute Hand für so was (...). Aber schließlich wenn diese Unentschiedenheit noch ein paar Tage dauert gehe ich vielleicht doch noch hinein. (...)


Barbara Baumgartner (geb. 1851)

Wetti Baumgartners offensives Auftreten auf verschiedenen Behörden war nicht kriegsbedingt. Als ihr Mann Johann 1876 unter Verdacht der "schuldbaren Krida" und "Veruntreuung" im Wiener Landesgericht inhaftiert war, versuchte sie, ihn zu unterstützen:

Krems den 23. Oktober 1876. (...) ich [nahm] ihm in einer Schachtel 5 Hemden, 2 Gatie [Unterhosen], 3 Paar Socken, 3 Sacktücher, 3 Virginier, Briefpapier und Couverts mit, eine Bleifeder und das Bild unseres Kindes, schrieb ihm für den Fall, daß ich ihn wieder nicht sollte sprechen können einen Brief und begab mich wieder ins Landesgericht im 2ten Stock zum Rath. Derselbe verwies mich nach dem 3ten Stock, Zimmer 26 zum Adjunkt Schneider. Diesen bat ich nun, ob ich meinen Mann sprechen dürfte (...) worauf man mir einen Erlaubnisschein ausstellte, mich in die Verwaltung zu ebener Erde wies, wo ich die Sachen abgab. Dann ging ich wieder in den 3. Stock zum Untersuchungsrichter und bat, nun mit ihm reden zu dürfen. (...) Ich setzte mich und wartete wohl eine Stunde, als ich meinen armen Mann in Begleitung eines Gerichtsdieners kommen sah wie er mich anblickte, wie traurig und wie freudig zugleich. (...)