Atelieraufnahme von Tilly Hübner, Sammlung Frauennachlässe, um 1903, SFN NL 1

Infragestellung der Institution Ehe


In den in der Sammlung Frauennachlässe archivierten Dokumenten kommen auch ehekritische Stimmen zu Wort, und es wird vielerorts versucht, individuelle Lebensmodelle zu entwerfen:


Mathilde Hübner (geb. 1884)

In ihrem gemeinsam geführten Brieftagebuch übten die Volksschullehrerin Mathilde (Tilly) Hübner und der Mathematikstudent Ottokar Hanzel 1906 heftige Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung und sondierten individuelle Lebensmodelle. Das Paar hat 1910 geheiratet:

28. Jänner 1906. Als unreifer Mensch glaubte ich, daß die verschiedenen Formen des Zusammenlebens an sich etwas vortreffliches u. nothwendiges seien, u. daß daher der einzelne in diesen Formen leben müßte. Zu seinem Wohle u. dem der anderen. Mir schien der Gedanke absurd, daß die Menschen nach tausendjähriger Erfahrung nicht im Stande sein sollten, Formen zu finden, nach denen zu leben jeder einzelne Befriedigung gewähren könnte. Ich war ein sozialer Schwärmer... Meine Erfahrungen machten mich dann zum Kritiker. Ich fand nicht nur, daß die jetzigen Formen schlecht u. verwerfliche Nothbehelfe seien, sondern auch, daß überhaupt keine Formen für alle sich finden ließen ... [Ottokar Hanzel im gemeinsamen Brieftagebuch 1906]

3. November 1906. Es bleibt dem Weibe nur das eine Gesetzt: "Dir will ich Weib sein!" Welche Körperlichkeiten dieses Gesetz verlangt, ist dem Manne einleuchtend, ich glaube aber, daß der Mann in gewöhnlichen Fällen nie und nimmer auch nur ahnt, welche psychischen Leistungen (...) [es] von dem Weibe fordert. Z.B. daß es sich unabhängig von seiner Familie macht, an die es durch Empfindungen feinster und intensivster Art gefesselt ist, wie auch durch seine ganze Erziehung. (...) Dem Manne gibt die Liebe Rechte, dem Weibe Gesetze. Dies gilt für das heutige Eheleben. [Tilly Hübner im gemeinsamen Brieftagebuch 1906]

28. März 1906. Zu einer wirklichen Ehereform [wird] (...) sich die verlogene Gesellschaft nie aufraffen. Denn eine solche Reform müßte weniger die Ehetrennung erleichtern als vielmehr die Eheschließung erschweren, in dem sie diese nur unter solchen Bedingungen zuläßt, die eine Gewähr für eine dauernde sexuelle Gemeinschaft bietet. (...) Daß nun eine solche Reform, die das Sexuelle vor dem Wirtschaftlichen berücksichtigt u. deshalb gerade umstürzend in das Gesellschafts- u. Wirtschaftsleben eingreifen würde, nicht im Allgemeinen durchgeführt werden wird, bin ich überzeugt. Denn sie setzt voraus, daß der Einzelne nicht dumm, unreif u. schuftig sei. Für die Reifen u. wahrhaft Sittlichen (nicht gesitteten), die stark genug sind nach eigener Form zu leben, war u. ist diese Reform überflüssig. [Ottokar Hanzel im gemeinsamen Brieftagebuch 1906]