Beschränkte Möglichkeiten - Zwischen Hinnahme und Auflehnung
Der Großteil der in der Sammlung Frauennachlässe archivierten Schriftstücke wurde im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst. In Bezug auf das Thema Ehe geht aus zahlreichen Quellen deutlich hervor, wie beschränkt die Möglichkeiten einer individuellen Lebensplanung insbesondere von bürgerlichen Frauen gewesen sind:
Tilde Mell (geb. 1884)
In den über 250 vorliegenden Briefen, die Tilde M. zwischen 1903 und 1912 an eine Freundin geschrieben hat, sprach die junge Wiener Blindenlehrerin von ihren Befürchtungen, unverheiratet zu bleiben. Gleichzeitig diskutierte sie aber auch ihre Bedenken, den Heiratswunschkandidaten ihrer Eltern zum Mann nehmen zu müssen, während sie ihr Herz geheim doch längst einem anderen geschenkt hatte:
[ohne Datum, 1906] (...) ich gäbe ein paar Jahre meines Lebens für einen Mann, der nur mich liebt. Ich habe gewiß genug Zärtlichkeit zu Hause, aber trotzdem möchte ich jemanden besitzen, der nur gegen mich zärtlich ist, nicht gegen alle anderen auch. Ich kann Dir ja gar nicht sagen, wie glücklich ich wäre, wenn sich ein Mann finden würde, der mich haben will. Ich sage mir mit der größten Bestimmtheit, daß es keinen solchen Mann gibt, noch geben wird, ich weiß, daß ich eine "alte Jungfer" werden werde, aber ich werde sicher noch sehr viel Tränen vergießen, ehe ich mich mit Ruhe fügen werde.
14. Februar 1906. Wäre das schlecht, wenn ich einen anderen nur aus Achtung heiratete, ohne vergessen zu können? Bloß, weil es meine Eltern wünschten und es mir eine angesehene Stellung brächte? Wenn ich mich aber bemühte, ihm das Leben so schön und angenehm zu machen, als ich kann? Ganz sein Weib zu sein und nur in einsamen Stunden an den Einzigen zu denken? Es kann noch Jahre dauern, ehe es soweit kommt, daß ich mich entscheiden müßte, aber wenn es früher kommt, ehe ich noch ruhiger denke und fühle? Ist es dann meine Pflicht, nein zu sagen oder was sonst?
- Tilde Mell, Briefe 1906, Sammlung Frauennachlässe SFN NL 1 (Beschreibung im Onlinekatalog)
- siehe dazu u.a. Monika Bernold und Johanna Gehmacher (2003) und Li Gerhalter (2004)